Der Schachweltmeister aus Wien

Tunc Hamarat lebt seit 30 Jahren in Wien, geht tagtäglich zur Arbeit, spielt leidenschaftlich Backgammon und legt in Jazzklubs als DJ auf. Noch etwas? Ja: Er ist Schachweltmeister.

Ein Schachweltmeister aus Österreich - unvorstellbar. Der erste und bislang letzte war Wilhelm Steinitz, und das ist über 100 Jahre her. Doch vor wenigen Tagen wurde Tunc Hamarat 16. Weltmeister im Fernschach. Jene Art von Schach, wo die Züge per Post (oder E-Mail) übermittelt werden. Pro Zug hat man fast unbeschränkt Zeit, Partien dauern Jahre. Zeitlupenschach sozusagen.

"Es ist fast wie von selbst gelaufen", erklärt der 57-Jährige mit einer umwerfenden Bescheidenheit. Er verlor keine einzige der 16 Partien des WM-Finales, das gut vier Jahre dauerte. Im Schnitt hat er nur ein bis zwei Stunden pro Tag getüftelt und kaum Hilfsmittel verwendet. "Über bestimmte Eröffnungen weiß ich mehr als alle Bücher, und im Endspiel fühle ich den besten Zug!" Sind Computer hilfreich? "Nein, sogar schädlich, denn sie kennen keine langfristigen Pläne."

Tunc Hamarat, in Istanbul geboren, besuchte die dortige Österreichische Schule. Es verschlug ihn nach Wien, an der TU absolvierte er das Physikstudium. Er jobbte als Übersetzer, betrieb Jazzklubs und ist nun Software-Ingenieur in der Telekommunikationsbranche. Fernschach spielt er, weil er fürs normale Schach keine Zeit hat. "Ich reise zehn Mal pro Jahr und habe viele Hobbies. Das Leben ist sehr kurz."

Seine Pläne als Weltmeister? "Schach habe ich satt!", schockiert er. "Jahrelang Schachfiguren im Gehirn, egal was man macht, essen, aufs Klo gehen. Ich muss sie rausputzen!" Er rät allen, Schach einfach zum Spaß zu spielen: "Die Zeit als Kaffeehausspieler war am schönsten!" Jetzt wird er ein Buch schreiben und sich auf Backgammon konzentrieren; da führt er bereits die österreichische Ever-Best-Liste an. "Einfacher Fischer in der Südtürkei wäre auch nicht schlecht", sinniert er.

Ein bemerkenswerter Zeitgenosse, der Weltmeister.

 

© Martin Stichlberger, erschienen im Kurier (4.2.2004)


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